Es ging blitzschnell. Ich rutschte über den Asphalt. Die Zeit quälte sich vor meinen Augen über die Ausfallstraße und ließ mich das Geschehen wie durch einen Zeitraffer betrachten. Mein Motorrad war mir ungefähr zwei Meter voraus, rutschte über die rechte Seite, wurde langsamer und bäumte sich schließlich wie eine Kreatur kurz vor dem finalen Zusammenbruch ein letztes mal auf. Dann fiel es auf seine linke Seite.

Als hätte ich es geahnt, dass ich stürzen würde. Als hätte sich mir eine Tür geöffnet, durch die ich einen flüchtigen Blick in die Zukunft werfen konnte. Es war nicht das erste mal. Doch wie immer, wenn mir solche Bilder aus dem Unterbewussten in das Bewusste stürmten, meldete der Verstand seine Zweifel an. Woher kamen diese Bilder? Waren sie unwillkürlich aus dem Unterbewusstsein aufgestiegen oder waren sie Projektionen des Verstandes, der auf diese Weise seinen Argumenten mehr Gewicht verleihen wollte. Ich entschied mich für letztere Möglichkeit, wischte die Bilder beiseite und beschloss ich mich trotz Müdigkeit und einem viel zu späten Start in den Tag auf den Weg zum Kimbo Run zu machen.

Die beschädigte Maschine parke ich in der Tiefgarage und schleppte mich die Treppe hoch in den zweiten Stock. In meiner Wohnung angekommen, schmiss ich die zerschlissene Hose in den Müll, entledigte mich meiner Kleidung. Bleierne Müdigkeit überkam mich. Vorsichtig legte ich mich auf mein Bett und schloss die Augen.

Mein Leben war immer vorwärts gerichtet. An die wenigen Momente, in denen ich das Gefühl hatte angekommen zu sein, erinnere ich mich kaum. Überhaupt spielt die Vergangenheit in meinem Leben eine untergeordnete Rolle. Wenn andere Menschen in Erinnerungen schwelgen, muss ich, um einen Schwank aus meiner Vergangenheit beizutragen, mühsam in meinem inneren Tagebuch blättern, das ich nie geführt habe. Daher schweige ich bei solchen Gelegenheiten eher und über lasse es anderen, sich im Licht ihrer Geschichten zu darzustellen.

Ich hasse es, mich in Reihe zu stellen und zu rufen: „Hier, hier, ich bin es, seht Ihr mich nicht?“ So kommt mir das Verhalten vieler Menschen vor. Sie unterwerfen sich einer vorgebenden Ordnung und stoßen Ihre Mitmenschen mit dem Ellenbogen, um sich ein oder zwei Positionen nach vorne zu drängen. Und wofür? Für die Illusion etwas Wertvolles zu ergattern. Ja, wertvoll muss es sein, sonst würde sie nicht alle in der Reihe stehen und nach vorne drängen, die Trottel.

Wenn ich so denke, ist es kein guter Tag. Es ist ein wütender Tag. Ein Tag, an dem ich keine Gnade mit meinen Mitmenschen habe. Sie nerven mich, manche ekeln mich an. Wenn ich draußen bin, an einem belebten Platz, in einem Einkaufszentrum oder in der Fußgängerzone, dann kommt es mir vor, als wäre ich in einem Comic gelandet. Die Körper sind unvorteilhaft überzeichnet – Karikaturen, die Gesichter sind Fratzen. Die Proportionen sind verloren im Großen wie im Kleinen. So kommt zum Vorschein, was die meiste Zeit verborgen ist: das Einfältige, das Häßliche, das Triviale, das Hinterhältige und das Böse.

Zum Glück sind diese Tage selten. Es sind Tage, an denen ich erschöpft bin. Die Zeit ist verflossen. Ich habe meine Zeit mit dem Notwendigen vergeudet. „Notwendig“, das Wort sagt schon alles: Not, Zwang, Nötigung, Notzucht, Notdurft. „Notwendig“ klingt nach Vergewaltigung und riecht nach Scheiße. Verdammt, bin ich tatsächlich der einzige Mensch auf dieser Welt, der bei der täglichen Verrichtung des Notwendigen den Geruch von Scheiße in der Nase hat.

Und das ist das, das mich seit jeher nach vorne treibt, der Geruch von Scheiße im hier und jetzt und die Ahnung, dass das Leben so nicht riechen muss. Es gab und es gibt sie, die wenigen Augenblicke in denen das Leben nach Zitronen, Meer, frischen Gras, Weed, Liebe – nach Glück und Freude riecht.

Als Kind, so erzählen meine Eltern, habe ich stundenlang fantasievolle Dinge mit Bausteinen konstruiert. Es muss schon immer für mich ein inneres Bedürfniss gewesen sein, aus losen Einzelteilen etwas schönes Ganzes zu bauen. Ja, ich hatte eine schöne, behütete Kindkeit und liebevolle Eltern. Sie sorgten dafür, dass alles gut roch. Doch mit zunehmender Wahrnehmung, zog auch dieser wiederliche Geruch in meine Nase.

Es ist dieser üble Gestank, den ich seither nicht mehr los werde. Er haftet an dieser Welt. Ausscheidung hat sprachlich ihren Ursprung in Spaltung, Trennung und Absonderung. Und so stockte mir der Atem, als sich im Kindergarten ein paar Jungs vor mir aufbauten und mir klar machten, dass ich nicht dazugehörte. Sie ahmten nach, was sie selbst erfahren hatten. Die Betreuerinnen teilten die Kinder in in brave und ungezogene Kinder. Die einen bekamen eine süßen Nachspeise, die anderen nichts.